VLWN fordert klare Mindeststandards für den Gesundheitsschutz und kritisiert den „Frühstart“

Die zwingend notwendigen hygienischen Standards, um eine sichere Wiedereröffnung der berufsbildenden Schulen zu gewährleisten, wollen die Kultusminister erst am 29. April bundesweit einheitlich festzurren. Doch bereits am 27. April soll der Schulbetrieb in Niedersachsen zumindest in den Abschlussklassen, die vor ihren Prüfungen stehen, starten. „Das ist kritisch. Der Wiedereinstieg in den Schulalltag ist an Mindestanforderungen gekoppelt. Die Risikogruppen müssen klar definiert sein. Der Mindestabstand in den Klassenräumen muss gewährleistet sein. Die hygienischen Bedingungen müssen dem Infektionsschutzgesetz genügen. Der Gesundheitsschutz muss für Lehrkräfte sowie Schülerinnen und Schüler gleichermaßen garantiert sein. Andernfalls kann der Unterricht an beruflichen Schulen auch in Teilen nicht starten“, sagt Joachim Maiß, Vorsitzender des Verbandes für Lehrerinnen und Lehrer an Wirtschaftsschulen in Niedersachsen (VLWN).

Dass Kultusminister Grant Hendrik Tonne jetzt vorprescht und ohne klar definierte Mindeststandards in Form eines Musterhygieneplans für die Herausforderungen der Coronakrise durchstarten will, empfindet Maiß, selbst Schulleiter der Multi-Media Berufsbildenden Schulen in Hannover, als problematisch. „Bevor der Präsenzunterricht starten kann, muss klar sein, ob und wie die Masken vorgeschrieben und dann auch verfügbar sind, wie die Versorgung mit Desinfektionsmitteln garantiert wird und wie die Schülerbeförderung nach dem Infektionsschutzgesetz erfolgen kann“, sagt Maiß und verweist dabei auf eine Besonderheit der beruflichen Bildung, deren Schülerinnen und Schüler aus einem weiten Einzugsgebiet kommen.

„Während in Gymnasien, Ober- oder Realschulen ca. 100 Schülerinnen und Schüler eines Jahrgangs ihre Abschlussprüfungen ablegen wollen und das unter verschärften hygienischen Vorgaben händelbar ist, sprechen wir bei den Berufsbildenden Schulen mit ihren unterschiedlichsten Schulformen unter einem Dach schnell von bis zu 800 Schülerinnen und Schülern, die in die Schulen strömen, um an Prüfungsvorbereitungskursen teilzunehmen und um ihre Prüfungen auch dort zu schreiben. Da hätten wir gerne verbindliche Vorgaben, wie die gesundheitliche Sicherheit für Lehrkräfte sowie Schülerinnen und Schüler gewährleistet werden kann. Hier ist die Politik gefordert, unverzüglich zu handeln“, sagt Maiß.

Der verlässliche Gesundheitsschutz wirft viele Fragen bei den Berufsbildnern auf: sämtliche Einrichtungsgegenstände im Klassenraum – von Stühlen über Tische bis hin zu den Tastaturen der Computer – müssen nach jedem Personenwechsel desinfiziert werden, ebenso die Räume und sanitären Anlagen. Entsprechende Anpassungen der bestehenden Reinigungsverträge müssen getroffen werden. So müssen Reinigungszeiten massiv ausgeweitet werden. Die entsprechend geschulten Reinigungskräfte gibt es wahrscheinlich gar nicht.

Der Weg zur Schule ist hochproblematisch. Wer öffentliche Verkehrsmittel nutzt, erhöht tagtäglich aufs Neue sein Infektionsrisiko – und damit das seiner Mitmenschen. Tägliche Schnelltests vor dem Schulgebäude sind nicht realistisch und stehen auch nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung. Der vorgeschriebene Eineinhalb-Meter-Sicherheitsabstand in Klassenräumen hat zur Folge, dass nur ein Drittel bis maximal die Hälfte einer Klasse gleichzeitig unterrichtet werden kann.

„Um faire Chancen für alle Schülerinnen und Schüler zu gewährleisten, hieße das, dass der Unterricht im Zweischichtbetrieb zu organisieren sei, um die Schülerströme zu entzerren. Allerdings ist die ÖPNV-Verfügbarkeit im ländlichen Raum sehr begrenzt. Das erschwert die Zu- und Abfahrt jenseits der Regelzeiten. Dafür müssen der gesamte Stundenplan umgebaut und die Unterrichtseinheiten in Distanz- und Präsenzeinheiten unterteilt werden. Das heißt auch, dass wir die Online-Units deutlich ausbauen. Und das alles in 14 Tagen umzusetzen ist ambitioniert“, sagt Maiß.

Die schleppende Digitalisierung der Schulen erwächst da zum Problem. „Wo ein Schüler-Endgerät fehlt, um online am Unterricht teilzunehmen, können die Schulen in der Regel schnell und unkompliziert Abhilfe schaffen und ein Leihgerät zur Verfügung stellen. Der fehlende Breitbandanschluss lässt sich hingegen nicht in den nächsten zwei Wochen verlegen“, sagt Maiß, der den Zickzack-Kurs der Landesregierung in den letzten Wochen kritisiert. Zu Beginn der Krise habe Minister Tonne mit Verweis auf die Chancengleichheit Fernunterricht untersagt. Dann gab es plötzlich die Ansage, auf freiwilliger Basis Schülerinnen und Schüler mit Lehrmaterialien versorgen zu dürfen. Die Benotung der Leistungen wurde ebenfalls mit Verweis auf die Chancengleichheit untersagt.

„Der Fahrplan des Ministeriums sieht jetzt vor, dass ab dem 22. April ein verbindliches Lernen im Homeschooling stattfinden soll. Das Material soll den Schülern per Mail, per Post oder übers Telefon zur Verfügung gestellt werden. Viele Lehrkräfte der beruflichen Schulen haben das bereits genauso in den letzten vier Wochen gehandhabt und diverse Kommunikationskanäle genutzt, um das Wissen ohne Masterplan und mit viel Engagement über die Distanz den Schülerinnen und Schülern zu vermitteln“, sagt Maiß und garantiert: „Das bleibt auch so“. Entscheidend für den Start des Präsenzunterrichts sei, „dass die Schulleiterinnen und Schulleiter gegenüber den Schülern, den Lehrkräften, den Eltern und auch den Ausbildungsbetrieben mit gutem Gewissen zusichern können, dass Schule ein sicherer Ort ist. Andernfalls kann der Präsenzunterricht an berufsbildenden Schulen nicht stattfinden. Hier sind die Landespolitik, der Schulträger und die Gesundheitsämter gefordert, die nötigen Rahmenbedingen zu schaffen“, sagt Maiß.

+++Pressemitteilung vom 20.04.2020+++